Frei leben! Die Frauen der Boheme 1890–1920

Einige wollen Kinder außerhalb von Ehe oder Partnerschaft bekommen und die Erziehung selbst in der Hand haben. Dafür nehmen sie Anfeindungen der Gesellschaft in Kauf. Franziska zu Reventlow will ganz für ihren Sohn Rolf da sein, verrät ihr Leben lang den Vater nicht. Auch Margarete Beutler bekommt ihren ersten Sohn allein. Juristisch allerdings dürfen Mütter um 1900 nicht eigenständig entscheiden. Für uneheliche Kinder wird ein Vormund eingesetzt. Andere verstehen unter „freier Mutterschaft“ auch die Freiheit, zu entscheiden, ob und wann sie Mutter sein wollen. Sie kämpfen daher für die Legalisierung von Empfängnisverhütung und Schwangerschaftsabbrüchen.

Auch eine Diskussion über die sozialen Bedingungen für – gewollt oder ungewollt – ledige Mütter wird immer wieder angestoßen. Die freiere Sexualität geht auch in der Boheme nicht selten zu Lasten der Frauen, die mit ungeplanten Kindern allein gelassen werden.

Vieles wird schamhaft verschwiegen. Trotzdem wird der Wunsch nach Selbstbestimmung über den eigenen weiblichen Körper immer stärker.

Frauengesundheit, Verhütung oder der Abbruch ungewollter Schwangerschaften sind nicht nur unter den Frauen der Boheme existenzielle Probleme. Unter unerkannten oder falsch behandelten Frauenkrankheiten leiden auch Franziska zu Reventlow und Emmy Hennings.

Aufklärung und Wissen über den eigenen Körper werden in der wilhelminischen Erziehung nicht vermittelt. Verhütungsmittel sind nur unter der Hand erhältlich. Abtreibungen sind seit 1871 mit den Paragrafen 218 bis 220 im Strafgesetzbuch des Deutschen Reiches verboten und werden schwer bestraft. Illegale Abtreibungen sind oft lebensgefährlich. Margarete Beutler widmet sich in Erzählungen den Schicksalen von Frauen, die in ungesicherten wirtschaftlichen Verhältnissen ungewollt schwanger sind.

Das gilt auch für einzelne Frauen in der Boheme. Viele äußern sich auch theoretisch oder literarisch zu diesem Thema. Franziska zu Reventlow verhandelt in ihren Essays die gesellschaftlichen Zusammenhänge zwischen bürgerlicher Scheinmoral, kirchlichen Vorstellungen und Prostitution.

Um 1900 wird die Prostitution als „gewerbliche Unzucht“ bezeichnet und unterliegt einer strengen Kontrolle durch die „Sittenpolizei“. Bestraft werden in der Regel die Prostituierten oder allenfalls noch ihre Zuhälter, nicht aber die Freier. Unter dem Begriff „Unzucht“ werden nahezu alle sexuellen Handlungen außerhalb der Ehe geahndet, auch das Zusammenleben als unverheiratetes Paar.

Emmy Hennings veröffentlicht 1920 den Roman Das Brandmal. Darin beschreibt sie die Prostitutionserfahrungen einer jungen Frau. Die Schilderung trägt teils autobiografische Züge. Not, Obdachlosigkeit, Hunger, Krankheit und Kriminalisierung werden literarisch verarbeitet.

In München tritt Margarete Beutler 1904 bei den Elf Scharfrichtern auf. Emmy Hennings steht ab 1911 häufig auf der Bühne der Künstlerkneipe Simplicissimus. Sie singt Balladen von Frank Wedekind, dänische Volkslieder und eigene Dichtungen.

Während des Ersten Weltkriegs emigrieren die Kriegsgegnerin Emmy Hennings und ihr Lebensgefährte Hugo Ball 1915 in die Schweiz. In Zürich sind sie Mitbegründer*innen von Dada. Tanzperformance, Lautmalerei, Simultangedichte, kubistische Kostüme – Dada ist wild, anarchistisch und provokant. Die neue Kunstform richtet sich gegen Konventionen und gegen den Krieg. Emmy Hennings steht oft im Zentrum der Abende im Cabaret Voltaire.

Für die Frauen der Boheme wird auf der Bühne auch ihr Körper zu einem wichtigen Ausdrucksmittel. Damit einher geht eine neue Wahrnehmung des eigenen Körpers und ein Nachdenken über Geschlechteridentitäten.